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Kassel, am 17. Jänner 1994

Zu Geschichte und Selbstverständnis des Lesetheaters

Das Wesen des Lesetheaters (insbesondere der spontanen Leseaufführung) besteht darin, daß Personen ein Stück sich aussuchen, besetzen, ohne (oder jedenfalls: ohne nennenswert zeitintensive) Probearbeit vorbereiten, um es einander, sowie dem erschienenen Publikum, vorzulesen.

Hierbei ist eine Vielzahl von Varianten denkbar. Es kann sich, vergleichbar einer öffentlichen Leseprobe, um eine Lesung mit verteilten Rollen handeln, aber auch um ausgiebiges Agieren mit dem Textbuch in der Hand. Es kann Life-Musik einbezogen sein, oder auch Kassettenmusik, eine Ton-Dia-Show oder selbst ein stummer Hintergrundfilm. Es kann von einer Guckkastenbühne aus agiert werden - oder auch in Form einer Arena, in welcher das Publikum (oder Teile dieses), hierin dem Lehrstücktheater vergleichbar, einbezogen wird. Die Rollen können quer zu den Gepflogenheiten des Theaterbetriebs besetzt werden. Eine wie immer geartete Exklusivität oder Mischung von Professionellen, Laien und Personen zwischen diesen beiden (vorgeblichen?) Welten kann vorgesehen werden, wovon unten noch die Rede sein wird. Vor allem ermöglicht es, zumal mit dem Stegreiftheater als zweitem Bein (im Falle des Ersten Wiener Lesetheaters bislang eher ein Spielbein), ein Theater des "Hier-und-Jetzt" (unter Umständen kennen die Mitwirkenden nicht einmal, von ihrer eigenen Rolle abgesehen, den gesamten Text und sind selbst über den Verlauf der Handlung erstaunt), ein Theater der Echtzeit, ohne zeitliche Beanspruchung durch Proben und durch aufwendige Administration.

Von der Tradition des Spontantheaters (improvisierte Einlagen des Vice in den Morality Plays, Commedia dell' arte, Extempori in der Alt-Wiener Volkskomödie, Tschauners Stegreiftheater) sehe ich ab; ich kann sie als bekannt voraussetzen.

Wiewohl gleichfalls dem Spontantheater ohne Text in der Hand zuzurechnen, indes gleichwohl vom Lesetheater kulturell beerbbar, ist hingegen auf eine Tradition aus dem japanischen Shogunat ausdrücklich hinzuweisen (ich habe sie dem verdienstvollen Katalog zur "Shogun"-Ausstellung 1984 entnommen): Auf Anregung des Hausherrn, welcher für diesen Zweck auch Berufsschauspieler engagiert hatte, waren die Gäste gehalten, spontan bei der angesagten Aufführung (etwa im Kontext eines Gastmahls) mitzuspielen. Auch die Tradition des Lesetheaters selbst ist bereits bejahrt, wenn sie auch kaum bekannt und noch weniger systematisiert ist. Anzunehmen ist, daß sie im geistlich-didaktischen Theater (in dem ja, zwecks Einübung in die antiken Sprachen, Theaterstücke gelesen, teils auch erprobt wurden) ihre Vorform, und in den halbprivaten Zusammenkünften bürgerlicher Öffentlichkeit der Aufklärung wie der Klassik (Weimar) ihre vorerst entfaltete Form gefunden haben. Um zwei (historisch spätere, eindeutig belegte) Beispiele zu nennen: Um 1880 hatten die Töchter von Karl Marx in dessen Londoner Wohnung einen "Dogberry Club", in welchem in vierzehntägigem Abstand spontane Leseaufführungen der Stücke von William Shakespeare stattfanden. (Von Karl Marx wird berichtet, daß er zwar so gut wie immer als Zuhörer zugegen war, jedoch nie mitlas. Quelle: Ausgewählte Briefe von/ an Marx und Engels, herausgegeben von H. M. Enzensberger). In seinen "nachgelassenen Schriften" (herausgegeben von Jürgen Nautz, Wien-München 1990) erwähnt, zum anderen, der nachmalige Sektionschef Richard Schüller, um 1885 mit seinen Mitschülern in Brünn einen "Leseclub" gegründet zu haben, in welchem monatlich sonntags ein klassisches Stück mit verteilten Rollen gelesen wurde. Die szenische Lesung im Deutschunterricht stellt in der Folge eine Art Kümmerform des Lesetheaters dar; auch die Übergänge zu den diversen "Clubs der toten Dichter" sind ebenso fließend wie zu szenischen Lesungen in bohemischen Subkulturen.

Auf Initiative von Erwin Gottfried Schindler wurden 1959 in Wien Lesetheater-Aktivitäten wieder aufgegriffen. Die daraus entstehende Gruppe um die "Informationen an den Freundeskreis" brachte es in den Jahren 1959 - 1967 auf mindestens 40 spontane Lesaufführungen, sowie auf einige Stegreiftheaterdarbietungen, welche in einem Kriegsbunker (Kronen Zeitung Anfang November 1959 "Halbstarke feiern Orgie in Kobenzl-Bunker"), im Freien auf Ruinen und vor Denkmälern, in Privatwohnungen und Gasthausextrazimmern, im (auch aus der Geschichte der Wiener Gruppe bekannten) Ballgassenkeller wie auch in ehemaligen Kohlenkellern und Lagerräumen, gelegentlich auch auf Studiobühnen durchgeführt wurden. (Gespielt/ gelesen wurde die damalige Avantgarde, aber vereinzelt auch Stücke von Brecht, Ibsen, Shakespeare, Peter Weiss, sowie den damaligen Gruppenmitgliedern Joe Berger, Friedl Schindler und Rolf Schwendter).

Seit 1982 knüpfte Rolf Schwendter in Kassel an diese Erfahrungen an, und initiierte das Lesetheater im Offenen Wohnzimmer (einem aus zwei ineinandergehenden Räumen mit Schiebetür bestehenden Mini-Kommunikationszentrum), welches bis Sommer 1992 an die 160 spontane Leseaufführungen und vergleichbare Veranstaltungen aufwies. Da, naheliegenderweise, die Lage des Theaters in Kassel eine vollständig andere ist als in Wien, lag hier der Schwerpunkt auf Stücken der modernen Klassik, wie auch Shakespeare zu den meistgespielten Autoren gehörte (er pflegt hier am Staatstheater vernachlässigt zu werden). Im Sinne der Modellförderungsintention exemplarisch ist hier allerdings, daß im vergangenen Jahrzehnt (das zehnjährige Jubiläum wurde im Juni 1992 gebührend gefeiert) die Anzahl der Personen, die wenigstens einmal eine spontane Leseaufführung verantwortet haben, auf über 30 angestiegen ist und weit über 300 Personen mitgelesen hatten. (Auch derzeit umfaßt das "Corps du Theatre" ca. 200 Leute.) 1989 gastierte das Lesetheater im Offenen Wohnzimmer Kassel mit Peter Weiss' "Verfolgung und Ermordung des Jean Paul Marat, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes von Charenton unter Leitung des Marquis de Sade" beim Open-Ohr-Festival in Mainz, welches im betreffenden Jahr auf das 200-Jahres-Jubiläum der Französischen Revolution sich bezog.

1990 wurde in Wien der Verein "Erstes Wiener Lesetheater und zweites Stegreiftheater" gegründet, welcher diesen (und vergleichbaren) Aktivitäten sich zu widmen vor hatte und hat. Unter den Bedingungen des zeitgenössischen Wiener Kulturlebens will dieser Verein, da ja nicht alle der Rezeption würdigen Stücke ständig auf den Spielplänen selbst einer Großstadt wie Wien gehalten werden können, sich auf jene Stücke und vergleichbare Produktionen konzentrieren, welche in Wien schon längere Zeit nicht wahrzunehmen waren - und manche vielleicht überhaupt noch nicht.

Hierbei ist derzeit vereinbart, daß ein Stück, welches vom Ersten Wiener Lesetheater zur Leseaufführung gebracht werden soll, mindestens 5 Jahre lang an keiner Wiener Bühne (bzw. von keiner Wiener Theatergruppe) gespielt worden sein soll. Bei großem Publikumsinteresse (welches derzeit regelmäßig durch Fragebögen an den bekannten Teil des Publikums erhoben wird) kann die Frist auf 3 Jahre verkürzt werden. Es bestehen Vorabsprachen mit dem Wiener Institut für Theaterwissenschaften (Bibliothek/ Datei), dies systematisch zu kontrollieren.
(Anmerkung: Aufgrund des seit damals erfolgten Anstieges der Anzahl der vom Ersten Wiener Lesetheater zur Aufführung gebrachten Stücke kann dieser ursprüngliche Grundsatz so nicht mehr eingehalten werden.)

Das "Erste Wiener Lesetheater und zweite Stegreiftheater" steht solcherarts in einem Schnittpunkt vieler Möglichkeiten, von der Ausgrabung "vergessener" Klassiker bis zum, im Allgemeinen ohnehin vernachlässigten, Gegenwartsstück, von der Avantgarde bis zur philosophischen Text-Montage (wie sie in Autant-Lavas "Art et Action" im Paris der Zwanziger- und Dreißigerjahre vorkam), von benachbarten theatralischen Formen (Drehbücher, Hörspiele, Songs, Lyrik-Montagen, Essays mit verteilten Rollen) bis zu dramaturgischen Opfern des Zirkulationsprozesses (Stücke, die in Mode geraten waren - und unverhofft wieder aus dieser gekommen sind), von Walter Benjamins kindlicher Kunst als "Kunst des Vergänglichen" bis zum bereits erwähnten Lehrstücktheater. Diese Möglichkeiten vereinen Salon- und Schullesung, alternative Bildung und Theaterpraxis, Erprobung des Unfertigen und kontextbezogene Perfektion - je nachdem, wie gerade die Akzente gesetzt werden (können). Es ist möglich, auch anspruchsvolle Stücke anspruchsvoll unter den Bedingungen ausgesprochen eingeschränkter Zeitökonomie aller Beteiligten zur (Lese-)Aufführung zu bringen. (Das Kasseler Lesetheater brachte es etwa immerhin zu einer auf 7 Stunden gekürzten Fassung von Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit", wie auch - nach einem Münchner Vorbild, an dem SchauspielerInnen und Wissenschafter, mit Christian Enzensberger, teilnahmen - zu einer 16-Stunden-Lesung von James Joyces "Ulysses".) Es ist möglich, in einem bestimmten Zusammenhang die Ausdrucksformen von Profis und von Laien (und von Personen, die dazwischen stehen, beispielsweise lesenden Autorinnen und Autoren) zu vereinigen: In der Gesamtheit meiner bisherigen biografischen Lesetheatererfahrungen reichte das Ensemble vom Burgschauspieler bis hin zu in Beschützenden Werkstätten arbeitenden Personen, spastisch Gelähmten, Psychiatrisierten. Und dies wäre auch unter den Wiener großstädtischen Bedingungen gut auszubauen - selbstredend in beide Richtungen und in alle nur denkbaren dazwischen. In fraglos extremer Überspitzung könnte formuliert werden, daß, wenn überhaupt, durch Aktivitäten im Lesetheater und Stegreiftheater, die Chance bestünde, aus Theater eine Art Volkssport zu machen. Denn auch sonst wäre noch vieles - was eben den Aktiven und Agierenden im Laufe der Jahre einzufallen pflegt - denkbar.

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  --- erstellt von Vera (Lesetheater@gmx.at) im Februar 2001, zuletzt geändert am ---